Erinnerung: Ruth Dreifuss

Eine epochale Persönlichkeit

Lieber Sigi
Es ist mir zum jetzigen Zeitpunkt noch unmöglich, über dich und in der Vergangenheitsform zu schreiben. Zu stark wirkt deine Präsenz. Zu drängend sind die Gefahren, gegen die du dich stets gestemmt hast. In Zukunft werde ich das Gespräch mit dir innerlich weiterführen. Es wird nicht allzu schwierig sein, deine vernünftige Leidenschaft, deine leidenschaftliche Vernunft, deine fordernde Aufmerksamkeit und deinen Humor in meinen Erinnerungen aufleben zu lassen. Denn du hast dich selber in den Kampf gegen Intoleranz und Hass geworfen, mit deinem ganzen Wesen und deiner ganzen Lebenserfahrung. Als ganzer Mensch.
Ein ganzer Mensch lässt sich nicht auf ein Merkmal reduzieren. Ein ganzer Baum zieht die Lebenskraft nicht aus einer einzigen Wurzel. Eine Gesellschaft ist nicht ein Nebeneinanderleben von getrennten Gemeinschaften, sondern ein Ganzes, in dem jeder Mensch alle seine Eigenschaften einbringen kann. Du bist ein solcher Mensch, ein solcher Baum, der engagierte Bürger einer demokratischen und vielfältigen Gesellschaft. Ein Schweizer, ein Jude, ein Sozialdemokrat, ein unermüdlicher Kämpfer für Menschenrechte und für alles, Grosses und Kleines, das die Würde der Menschen schützen und zur Entfaltung bringen kann.
Heute leben wir in gefährlichen Zeiten; die Versuchung wächst, jeden Menschen in einer Kategorie einzusperren, ihn mit einem Merkmal zu definieren ? Religion, Nationalität, Partei, Hautfarbe usw. Und der Druck verstärkt sich, dieser falsch verstandenen Identität bedingungslose Treue zu gewähren. Du wirst uns im Kampf gegen diese Versuchung und diesen Druck fehlen. Aber dein Beispiel wird uns helfen: Als steter Warner gegen Fehlentwicklungen bei denen, die dir am nächsten stehen. Das Beispiel des Schweizers Sigi Feigel, eines kritischen Bürgers, des Juden Sigi Feigel, der sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt, des Antirassisten Sigi Feigel, der seine Unterstützung immer denen gibt, die gerade hier und jetzt Opfer des Rassismus sind.

Liebe Evi
Ich denke an dich, an deinen Schmerz, an deinen Mut, an das gemeinsame Leben mit Sigi. Er wäre niemals der gewesen, den heute so viele vermissen, hätte er nicht mit dir sein Werk aufbauen dürfen.
    
Ruth Dreifuss, Alt-Bundesrätin